Dienstag, 29. November 2011

Identitätsverschiebung

Noch vor einigen Jahrzehnten galt das antike "Erkenne dich selbst" als das heimliche Ziel alles bewußten Lebens. Diese Art der Selbstfindung wird mehr und mehr abgelöst durch permanente Selbsterfindung, Selbstinszenierung, so daß das lebenslang haltbare Konstrukt eines stabilen Selbst zunehmend in Frage gestellt wird, genauso wie die Notwendigkeit des Blicks nach innen. Wer sich selbst ständig neu erfindet, hat keine Zeit und keinen Raum für Selbsterkenntnis, und es gibt auch keinen Grund dazu, denn das Selbst wird zunehmend zu einer äußeren Funktion des Menschen. Im Innern hallt es nur noch leer, wenn man hineinruft.

Sonntag, 27. November 2011

Kohortenkram und seine Krämer

Nach dem – ermüdenden – und Staublunge fördernden, wenngleich erhellenden Lesen mehrerer sozialwissenschaftlicher Bücher mit viel Statistik und Empirie, Daten über unterschiedliche Altersgruppen, kurz Kohortenkram, ist mir ein griffiger Begriff eingefallen, unter dem Sozialpsychologen und Soziologen pejorisierend zusammengefaßt werden können: Kohortenkrämer. Die Rache des eingestaubten Lesers. 

Externalisierung von Selbsterkenntnis

Unter denjenigen, die konstatieren, daß die Zahl der Menschen mit problematischer Persönlichkeitsstruktur stark zunimmt, finden sich erstaunlich viele mit problematischer Persönlichkeitsstruktur. Da die Zahl derartiger Hobbypsychologen in letzter Zeit gewaltig zugenommen hat, tritt tatsächlich das ein, was diese, anfangs zu Unrecht, festgestellt haben: eine Inflation im Bereich der soziopathologischen Zeitgenossenschaft. Verunglückte Selffulfilling prophecy oder auch eine Art Positivierung des negativen Denkens.

Samstag, 26. November 2011

Wo der Pfeffer wächst

Wo der Pfeffer wächst
braucht ein Mann keinen Titel
nur zum Arbeiten Hände

aber nicht in der Tasche
nur der Mund sollte ruhen

Donnerstag, 24. November 2011

Tirade 171 – Zeit finden


Du könntest schreiben
fändest du dazu die Zeit
solltest mal suchen

das aber kostet viel Zeit
Zeit suchen Zeit verschwenden

Mittwoch, 23. November 2011

Der Segen der Medizin

Die US-amerikanische Arznei- und Lebensmittelaufsicht FDA hat festgestellt, daß innerhalb von fünf Jahren Zehntausende Herzinfarkte auf die Einnahme des Schmerzmittels und Antirheumatikums Vioxx zurückgeführt werden können. Dem vorangegangen war ein gutes Geschäft für Pharma-Manager und -Aktionäre, auch für  Drugstores und die Damen und Herren Apotheker. In der Folge eine prachtvolle Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Kardiologen. Je gesünder die Medizinbranche, so scheint es, um so kränker die Patienten.

Kuchenorthographischer Irrtum

In der "Berliner Morgenpost" zog heute ein gewisser Gilbert Schomaker eine Rechtschreibungsshow ab und tat sich als Spezialist für Orthographie hervor: Er meinte, das Tortengeschenk, das die Linke dem (weiterhin) Regierenden Bürgermeister zukommen ließ – "Viel Spass mit den Neuen!" – sei kuchenorthographisch mißlungen: "mit Doppel-s statt korrekt mit ß geschrieben". Schaut man sich jedoch den Kuchen genauer an, dann ist nicht zu übersehen, daß es sich bei den Buchstaben um Versalien bzw. Kapitälchen handelt. Ein "ß" hat es aber bei Versalien und Kapitälchen aus nachvollziehbaren Gründen noch nie gegeben. "SPAß", wie von Herrn Schomaker als korrekt betrachtet, ist also falsch. Peinliche Schlechterwisserei. Für solchen Unsinn soll man zu allem Überfluß auch noch bezahlen.

Dienstag, 22. November 2011

Nachtflug über Afrika

Als ich Afrika überflog
zuckten seine Lichter
in der Ferne
an wenigen Stellen
blinkten unter den Lidern
wie verwaiste Leuchtreklamen
Afrika, unser Heimatland
ein bischen hell ganz im Norden
an den Küsten
und im äußersten Süden
in der Mitte Schwärze
fast wie im armen
Nordkorea

Beinahe paradox

Nur wer sich mit allen Konsequenzen darüber klar ist, daß er jederzeit sterben kann, kann dem Leben mit Freude alles abgewinnen, was es zu bieten hat. Wer die Todesbedrohung, die über ihm schwebt, ebenso verdrängt wie die unumstößliche Tatsache seiner Sterblichkeit, läuft Gefahr, in Unzufriedenheit und Mißmut abzugleiten und sich vom Leben betrogen zu fühlen.  

Montag, 14. November 2011

Zwischen den Zeilen

Viele Leser behaupten, zwischen den Zeilen lesen zu können, was früher so manchen Autor verwunderte, der sich sicher war, nicht zwischen den Zeilen geschrieben zu haben. Mittlerweile sind die meisten Autoren dazu übergegangen, zwischen den Zeilen zu schreiben. Wer allerdings glaubt, eine solcherart veränderte Buchproduktion spare eine Menge Papier (oder Speicherplatz), der sieht sich getäuscht: Die Bücher werden dennoch immer dicker. Wenn die Autoren nicht so fleißig zwischen den Zeilen schrieben, gäbe es vermutlich nur noch Folianten vom Typ "Krieg und Frieden" in einem Band.

Donnerstag, 10. November 2011

Tirade 170 – Ruhetag

Heute Ruhetag
geschlossen meine Lippen
als klebten sie fest

sehe nur höre fühle
schlösse gern alle Poren

Out of Time

Verabredet mit einem Freund, stehe ich um Viertel vor acht in meiner neuen alten Heimat, very small town, auf dem Bürgersteig vor einem  im unteren Bereich fensterlos erscheinenden, weil plakatierten Gebäude im Dunkeln. Nichts regt sich. Angeblich soll hier um acht die legendäre Blues-Röhre Chris Farlowe mit der Norman Beaker Band Musik machen. Wenn das tatsächlich stimmen sollte (immerhin steht es auf dem Plakat an der Wand), wieso tut sich hier nichts? Datum stimmt, Zeit stimmt – was ist los? Das ist hier ja wie in Berlin, wo man abends um elf zur U-Bahn schlendert, wenn das Konzert oder die Fete um zehn losgehn soll.

Kurz darauf trudeln dann doch die ersten Leute ein, man redet über dieses und jenes Konzert, und wie beiläufig öffnet sich die Tür. Karten werden abgerissen, es gibt einen Stempel aufs Fleisch, und ich bin drin in den späten Sechzigern, höre Gutelaunelachen und Deep Purple, Hendrix und Led Zep und reibe mir verwundert die Augen. Ich war mal kurz vierzig Jahre fort, und nun bin ich wieder da. Prost.

 
Später wird gesagt, es sei hier nicht immer so unzeitgemäß, aber ja, natürlich, das geht mir mit mir selbst auch nicht anders.

Nach einer Weile wird die Band angekündigt – der Veranstalter ist selbst überrascht, daß er es geschafft hat, sie hier und heute auf die Bühne zu bringen –, und die Instrumente spucken die ersten Töne aus. Auch ich bin überrascht – über die tatsächlich annehmbare Akustik in diesem kleinen Raum, alles geregelt vom Laptop-Mischpult aus, das auf der Theke steht.
Norman Beaker, der aussieht wie ein melancholischer Richard Rogler, spielt Gitarre und beginnt zu singen. Mein Freund, der seine Brille nicht dabeihat, denkt, das sei bereits Chris Farlowe, und freut sich, aber ich sage: Abwarten. Und nach dem Stück kommt er dann, der Meister selbst, und nimmt mit seiner Stimme den ganzen Raum in Besitz.

Was folgt, ist eines dieser Konzerte, an die man sich gern erinnert. Alles paßt, Band und Publikum haben Spaß, kommunizieren miteinander (selten einen so witzigen und dem Publikum derartig dauerhaft zugewandten Musiker gesehen) und erleben gemeinsam einen unzeitgemäßen Wimpernschlag der Zeit. 

Zum Schluß noch ein paar zeitgemäße Gespräche. Rund, das Ganze.



I'll Sing the Blues for You
 
 
 
ChrisFarlowe im Kump

Konzert im Kump

Mittwoch, 9. November 2011

Plapperheinis Laberkiste. Markenkern.

Die CDU sei insgesamt "gut beraten, wenn sie an ihrem Markenkern der inneren Sicherheit festhält". Sagt ein ehemaliger CDU-Innensenator in Berlin über einen, der Zäune errichten läßt, damit Obdachlose nicht zu ihrem Quartier unter einer Brücke gelangen können.

In Hamburg wird der "Markenkern der CDU" vermißt, die Stadt sei so autofahrerunfreundlich geworden. "Merkel entkernt die CDU", heißt es in der SZ. Der Bonner Generalanzeiger sieht "Die Union ... Marke ohne Wert". Die NRW-SPD will "zurück zum Markenkern". Und so weiter und so fort. Hatte man bisher gedacht,  CDU, SPD oder andere ähnliche Gebilde seien Parteien, stellt sich nun heraus: Sind sie nicht, sie sind Marken, so wie ALDI oder das Posaunenwerk der evangelischen Kirche Hessen-Nassau – "es lohnt sich (, sich) für diese große Marke der EKHN einzusetzen" – oder DIE LINKE, wo es beim letzten Parteitag (aus dem Kreisverband Krefeld) hieß, der Markenkern der Linken dürfe nicht aufgeweicht werden. Glück auf im Betonbau.

Man möchte, leicht abgewandelt, mit Wilhelm II. sagen: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Marken.

ABC-Schützen

Wenn man diese ABC-Schützen betrachtet, so wird deren Gefährlichkeit nicht bewußt, sie sehen eher aus wie Schulanfänger, die früher auch i-Männchen genannt wurden, und nicht wie Menschen, die uns mit atomaren, bakteriologischen und chemischen Waffen bedrohen. Kann es sein, daß Abc-Schützen gemeint sind?



Focus Online

Dienstag, 8. November 2011

Ungeklärte Todesfälle

Komische Sache, Bankräuber in Thüringen erschießen sich nach erfolgreichen Banküberfällen angeblich selbst. Anschließend verbrennen sie sich. In Sachsen explodiert ein Haus. Merkwürdige Geschichten. Aber keinen Journalisten scheinen die genauen Umstände  weiter zu interessieren. In den Zeitungen bzw. deren Onlineportalen wird munter drauflosgeplappert von Selbstmord und geklärten Fällen. Warum so einfach und beinahe plausibel? "Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger sagte dem Südwestrundfunk (SWR), er gehe davon aus, dass der Mord von den beiden toten mutmaßlichen Bankräubern ... begangen wurde" (Focus). Erstaunlich.
Fassen wir zusammen: Tote Bankräuber erschießen Menschen, bevor sie sich selbst erschießen. Dann verbrennen sie sich. Klingt überzeugend.
DIE WELT
NEWS

Der Gegensatz des Optimismus

Viele glauben, der Gegensatz des reinen, unverfälschten Optimismus wäre der reine, unverfälschte Pessimismus. Das ist ganz falsch, vielmehr ist Realismus der Gegensatz, denn während der Realist sich nicht vorstellen mag, braucht und kann, in naher oder fernerer Zukunft, also noch in diesem Leben, zum Optimisten zu werden, muß der Pessimist solch eine Wendung für durchaus möglich halten.

Montag, 7. November 2011

Tirade 169 – Nebelherbst

Benebeltes Gras
schmerzlich darniedergedrückt
die hohlen Halme

ohne alle Erwartung
nur der Mond spricht noch leise

Tirade 168 – Den Lüften entwichen

Krähen im Nebel
auf den wankenden Zweigen
tanzen Gleichgewicht

wippen verstockt im Winden
schweren Lüften entwichen

Über Übel

"Die eingebildeten Übel sind die unheilbarsten", sagt angeblich Marie von Ebner-Eschenbach. So jedenfalls steht es in einer der vielen Sprüchesammlungen im Netz.

Da eingebildete Übel keine Übel sind, sondern nur Ideen von Übeln oder Meinungen über sie, sind sie durchaus heilbar, so wie die falsche Komparation von Absolutadjektiven. Daß "unheilbar" nicht zur Bildung eines Superlativs taugt, gleichwohl jedoch dazu mißbraucht wird, ist also zwar kein eingebildetes Übel, sondern ein tatsächliches, aber trotzdem ist es ein heilbares.

Schlägt man im Buch nach, findet man: Marie von Ebner-Eschenbach ist nicht verantwortlich für die fälschliche Steigerung des Nichtsteigerbaren, denn sie sagt formal richtig: "Eingebildete Übel gehören zu den unheilbaren." Ich denke nicht, daß das inhaltlich immer stimmt, aber die Toren, die etwas zum Übel erklären, das gar keines ist, gehören nicht selten zu den Unbelehrbaren.

Mehrdimensionales Denken

Alle Welt redet von 3-D-Filmen, -Kameras, -Fotoapparaten -Fernsehern. Der Blick in die Tiefe ist das Gebot der Stunde. Beim Denken allerdings erfreuen sich bei denselben Leuten weiterhin die binären Schematisierungen, die für die Fundamentalismen dieser Welt unverzichtbar sind, besonders großer Beliebtheit, und wenn einer mal simples Farbendenken im schwarzweißen Raum betreibt, dann schütteln zwanzig andere den Kopf und glauben, es würde ihnen nicht schaden, ihre Nervenzellen auf diese Weise durcheinanderzubringen. Forscher sind inzwischen in der Lage, die "Tätigkeit" der Synapsen in 3 D zu betrachten; nur um die Ergebnisse ihrer Betrachtungen fruchtbar zu interpretieren, braucht es mehr als die traditionellen dyadischen Schemata. Verändertes Sehen führt nur dann zu verändertem Denken, wenn die Sicherheiten logischer Denkmuster wenigstens zeitweise und provisorisch in Frage gestellt werden. Leider ist das einfache Denken vor allem eines: einfacher. Beim Sehen hilft die Brille. Was hilft beim Denken?

Sonntag, 6. November 2011

Die alternde Mnemosyne

Haben wir etwas verlegt, neigen wir, wenn wir in die Jahre kommen, dazu zu glauben, unser Gedächtnis hätte nachgelassen, was dadurch untermauert wird, daß wir beispielsweise öfter auf der Suche nach verlegten Gegenständen zu sein scheinen als früher. Wohl weil wir uns, wie bereits zu früheren Zeiten, nicht mehr daran erinnern mögen, in der Vergangenheit ähnlich häufig nach etwas gesucht zu haben wie heute, halten wir ein mit der Zeit nachlassendes Gedächtnis für unausweichlich. Tatsächlich ist es so, daß die Gedächtnisleistungen im höheren Alter ein wenig nachlassen, aber das liegt zum großen Teil daran, daß viele meinen, sie müßten sich jeden Quark merken, und damit die mnemonische Registratur in ihrem kognitiven Apparat unnötig überfordern.

Der Hauptgrund für unnötiges Suchen ist jedoch eine Abnahme der Bewußtheit. Wir erinnern uns nicht mehr, wohin wir die Bohrmaschine gelegt haben, weil wir beim Ablegen mit den Gedanken bereits woanders waren, etwa bei Schrauben und Schraubenzieher. Je mehr uns bekannt ist an Gegenständen und Abläufen, um so mehr wird als selbstverständlich betrachtet und damit aus dem Bewußseinsfokus ausgesondert. Kennen wir alles.

Wer zunehmend vergeßlich wird, dem hilft nicht so sehr ausgefeilte Mnemotechnik, als vielmehr eine verstärkte bewußte Wahrnehmung der Umgebung, aber vor allem des eigenen Tuns. Dazu ist manchmal ein etwas langsameres Agieren notwendig als gewohnt, und das ist nicht nur gut fürs Bewußtsein und das Gedächtnis, sondern schont auch die Nerven und entlastet die Knochen.

Donnerstag, 3. November 2011

Der Wille zur Verzweiflung


Zu jedem Sein-Wollen gehört Optimismus, auch dem Willen zur Verzweiflung ist die optimistische Vorstellung immanent, er könne irgendwas nützen.

Tirade 167 – Nicht alles

Alles ist gesagt
sagte sie und schwieg vor sich hin
warf grüne Blicke

die Augen lärmten heftig
zu laut um zu verstehen

Mittwoch, 2. November 2011

Sauber denken

In einem Beitrag über den Islam war die Rede vom westlichen "Denkmuster eines sich unaufhaltsam weiterentwickelnden Fortschritts". Bei solchen Formulierungen, die es leider manchmal geradezu regnet, frage ich mich wieder und wieder, warum derjenige, der solch unreflektiertes Wortmaterial in Texte streut, derartig offensichtliche semantische Unsinnigkeiten nicht bemerkt.

Es ist doch nicht der Fortschritt, der sich in diesem "Denkmuster" weiterentwickelt, sondern vielmehr entwickeln sich das Denken selbst, die Beziehungen und die Verhältnisse allgemein, und wenn die Veränderungen bejaht und als positiv betrachtet werden, dann nennt man dies Fortschritt. Fortschritt selbst ist nur (be-)wertendes Attribut einer Bewegung auf etwas hin – der Begriff "Fortschritt" ist eine nahezu beliebig zu füllende Prädikathülle.

Dienstag, 1. November 2011

Ruhelohn

Leistung muß sich lohnen.
Ein ehemaliger Minister streitet
vor Gericht
für Politrentner-Mindestlohn
so um die achtzig
Euro die Stunde für
Ausruhen auf dem Sofa
bei Vierzig-Stunden-Woche
wenn das keine
lohnende Leistung ist.

Mach ich für weniger.

Tirade 166 – Globaler Hühnerhof

Sieben Milliarden
kratzen laut in Krumen rum
düngen und ernten

suchen nach Gold mit Gebrumm
scharren wie Hühner im Mist