Dienstag, 30. Dezember 2008

Luftpost aus Israel

Nachdem Hamas-Aktivisten Israel in einer Art Kassam-Luftflaschenpost in allgemeinverständlicher Sprache über längere Zeit höflich um eine neue Diskussionsrunde zu beiderseitig interessierenden Fragen gebeten hatten, hat Israel nun kurzfristig eine Informationsveranstaltung zum Existenzrecht des jüdischen Staates abgehalten, wenngleich nicht, wie von der Hamas erhofft, auf arabisch, sondern ebenfalls in einer Sprache, die von jedem zu verstehen ist. Man mag das unhöflich finden, aber verständlich ist es allemal.

Ungerecht behandelt und unterdrückt

Viele Konflikte entstehen dadurch, daß jene, die glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein, aber nicht die Macht haben, andere zu unterdrücken und die eigene Wahrheit anderen gewaltsam aufzuzwingen, dazu neigen, sich selbst als ungerecht Behandelte und Unterdrückte zu betrachten. Was in gewisser Weise sogar zutreffend ist, wenn man es als Unterdrückung betrachtet, jemanden daran zu hindern, seinen totalitären Neigungen entsprechend zu leben. …

Kreise

Je größer unsere Kreise sind, um so eher erliegen wir der Illusion der linearen Bewegung.

Zeigefinger

Sloterdijk in der Zeit: "Der Daumen hat den übrigen Fingern den Rang abgelaufen, er ist der große Gewinner dieses Jahrzehnts." Ich hatte dazu bereits bemerkt, daß der Daumen eher Verlierer ist – wegen der zu erwartenden Zunahme der Daumensattelgelenksarthrosen infolge exzessiven Mausgebrauchs. Im übrigen stelle ich fest, daß die Zeigefinger allüberall immer länger werden.

Nicht geahnt

Ein Verbrecherregime gebiert sich nicht selbst. Am Anfang eines jeden verbrecherischen Regimes in der Geschichte standen Gläubige, enthusiasmierte Idealisten, die später einmal sagen werden: Das haben wir nicht geahnt. Und wir haben nichts gewußt.

Moralische Urteile

Gegen moralische Urteile, die auf Nachdenken beruhen, habe ich nichts, soweit sie schlüssig aus den Ergebnissen des Nachdenkens hervorgehen. Nachdenken, das auf moralischen Urteilen beruht, sie zu ihrem Ausgangspunkt macht, halte ich jedoch für entbehrlich. Es sei denn, das Nachdenken geschieht mit der Absicht, ebendiese moralischen Urteile auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen.

Bevor ich begründe, warum etwas von Übel ist, gebietet es die intellektuelle Aufrichtigkeit, zu prüfen, ob dies tatsächlich zutrifft und nicht nur meinen Neigungen und vorgefaßten, wenig reflektierten Überzeugungen widerspricht.

Wert der Werte

Bereits die Frage, ob ich Wert auf ein Wertsystem lege, ist keine intellektuelle, sondern eine moralische. Umso mehr wird die Auswahl eines Wertsystems primär von ethischer Motivation geleitet und nicht so sehr von rationalen Überlegungen. Der Wert von Werten aber versteht sich nicht von selbst, sondern muß rationaler Prüfung ebenso standhalten wie der Wert der Wertung als Haltung. Welchen Wert hat es zu werten? Hat die Frage nach einem Wert überhaupt einen Sinn?

Vom Wert der Religionen

Michael Novak, Katholik und amerikanischer Religionswissenschaftler und Gesellschaftstheoretiker aus Pennsylvania, sagt zur religiösen Motivation amerikanischer Soldaten: "In den am stärksten religiös geprägten Teilen Amerikas gibt es einen stärkeren Willen, zum Militär zu gehen, und auch eine größere Bereitschaft, die gefährlichsten Aufträge zu übernehmen. Die Frage ist, warum ist das so? Einige Leute glauben – ich gehöre auch zu ihnen –, daß religiöse Menschen schnell erkennen, daß es etwas gibt, für das es sich lohnt zu sterben. Es gibt etwas Wertvolleres als das Leben. Und sie sind bereit, ihr Leben zu opfern, falls es notwendig ist."

Mir stellt sich eher die Frage, woran man erkennen kann, was wichtiger ist als das Leben. Und wie man herausfindet, ob einem vielleicht nicht nur etwas eingeredet wird von Leuten, die ganz andere Interessen haben als man selbst.

Herzliche Weihnachtsgrüße aus dem Ausbildungslager für Selbstmordattentäter.

Intellektuelle und Philosophen

Während der Intellektuelle scheinbar verschämt abwinkt, wenn man ihn als Philosophen bezeichnet, und seine Gesichtsfarbe wegen der durchblutungsfördernden Schmeichelei von vornehmer Blässe in einen sanften Rotton wechselt, wird der Philosoph wütend und knallrot, wenn man ihn als Intellektuellen enternstet. Das ist der Unterschied.

Immer nie

Manche sind immer nie besonders klug. Daran wird sich nie was ändern. Das war schon immer so.

Fußnoten

Am klarsten denkt es sich ohne Fußnoten. Sie behindern das eigene Denken wie Stiefel das Laufen auf einer Wiese.

Narrenkappen

Narrenkappen gibt es in vielen Farben. Und wenn die Kappe nicht ganz dicht ist, muß man dichten.

Geld und Macht

Wer viel Geld hat, neigt dazu, dieses zu benutzen, um zu noch mehr Geld zu kommen. Oder er versucht, mit diesem Geld zu Macht zu gelangen, um seine gesellschaftspolitischen oder anderen Idealvorstellungen in die Wirklichkeit umzusetzen. Wer viel Macht hat, neigt dazu, diese Macht zu mißbrachen, um an (noch mehr) Geld oder noch mehr Macht an sich zu reißen. Wem's gefällt.

Nutznieser

Ein Nutznieser ist jemand, der seine Erkältung dazu benutzt, gegen jene, die er nicht leiden kann, einen individuellen bakteriologischen Krieg zu führen mit dem Ziel, die anderen zu infizieren. Nutznießer des Nutzniesers sind der Arzt und der Apotheker.

Urteile

Wenn die eigene Meinung auf Urteilsvermögen basiert, ist sie ein Urteil. Aber keine Verurteilung. Verurteilungen findet man besonders bei jenen, denen es an Urteilsvermögen mangelt. Die setzen sich gern ein schwarzes Käppchen auf, ziehen die Robe an und sprechen Unrecht.

Dienstag, 16. Dezember 2008

Tirade 134 – Fortschreiten

Und immer voran
gehen in großen Zellen
spurlos im Beton.

Auch die Zeiger der Uhren
zerpflügen nicht ihren Weg

Das Bild im Spiegel

Menschen sind sehr unterschiedlich, aber wenn wir uns in ihnen spiegeln, kommen sie uns vertraut vor.

Hinfallen

Wer hinfällt, ist nicht immer nur ungeschickt, sondern oft unbewußt beseelt von dem Wunsch, jemand möge ihm aufhelfen.

Bankraub

Angesichts der staatlichen Unterstützungen des Bankensektors ist zu überlegen, ob der Begriff "Bankraub" neu definiert werden muß.

Montag, 15. Dezember 2008

Tirade 133 – Seelenmimese

Schwarze Gespenster
bunt im Tagesgefieder
Farben der Sonne

Die Nächte lichten das Licht
Nachts sind Seelenflügel grau

Ironische Selbstbeobachtung

Wenn die Konditionalsätze über andere in Form indikativischer Realgefüge sich häufen, dann wird es Zeit, wieder Gedichte zu schreiben, bevor der Realis der anderen in den eigenen conjunctivus irrealis abgleitet.

Ehrabschneidung

Wenn einer anfängt von seiner Ehre zu reden und deren Verletzungen, dann weiß ich: Das nimmt kein gutes Ende. Erst mal aber blamiert sich der Ehrleidende selbst durch sein Gerede viel mehr, als es ihm irgendeiner mit ehrabschmirgelndem Zeitungspapier antun könnte.

Mit ein wenig Souveränität kann man Ehrverletzungen positiv umdeuten. Wer jemand was von der Ehre abschneidet, hilft ihm, Gravitätsballast abzuwerfen. Solche Verschlankung ist in jedem Falle der Persönlichkeitsentwicklung zuträglich und erleichtert das Auftreten.

Maskulistische Linguistik

Vertreterinnen einer feministischen Linguistik beklagen sehr gerne, wie ungerecht es bisweilen in der Sprache zugeht, als könne und solle die Sprache so etwas wie ein Gerichtshof für Gleichberechtigung sein. Häufig seien weibliche Formen unterrepräsentiert und fristeten ein armseliges Leben im Schatten männlicher Dominanz. Daß es auch anders geht, sieht man zum Beispiel in der Technik. So wird nicht etwa der Vater in die Mutter geschraubt beziehungsweise die Mutter auf den Vater – oder die Vaterschraube oder der Schraubenvater in die Schraubenmutter oder Mutterschraube –, sondern ganz pragmatisch eingeschlechtlich nur die Schraube in die Mutter, die Mutter auf die Schraube (oder die Mutterschraube). Technik als weibliche Domäne. Schon in Pierers Universallexikon von 1862 findet man neben der Schraube die "Schraubenmutter" und die "Mutterschraube". Den Schraubenvater oder die Vaterschraube sucht man unter dem Stichwort Schraube bei Pierer und in späteren Lexika vergebens.

Wir sagen zwar Schraubenmutter, aber nicht Schraubenvater. Tatsächlich findet sich der Begriff Vaterschraube in Krünitz' Enzyklopädie ein Jahrhundert vor Pierer. Die Feminisierung des technischen Befestigungs- und Verbindungselementes Schraube liegt also zwischen der Mitte des achtzehnten und der des neunzehnten Jahrhunderts.

Den Männern bleibt angesichts dieser offensichtlichen Benachteiligung, die völlig unverständlich ist, wenn man bedenkt, wie der Begriff analogisch entstanden ist, nichts als eine Art technischer Penisneid und betroffenes Staunen über die kuriose Realitätsfremdheit mancher sprachlichen Formen.

Vielleicht erklärt sich aus dem männlichen Neidgefühl die Erfindung des Kompositums Schreckschraube. Auch das eindeutig ein dominium femininum.
Wir sagen zwar Schraubenmutter, aber nicht Schraubenvater. Tatsächlich findet sich der Begriff Vaterschraube in Krünitz' Enzyklopädie ein Jahrhundert vor Pierer. Die Feminisierung des technischen Befestigungs- und Verbindungselementes Schraube liegt also zwischen der Mitte des achtzehnten und der des neunzehnten Jahrhunderts.

Den Männern bleibt angesichts dieser offensichtlichen Benachteiligung, die völlig unverständlich ist, wenn man bedenkt, wie der Begriff analogisch entstanden ist, nichts als eine Art technischer Penisneid und betroffenes Staunen über die kuriose Realitätsfremdheit mancher sprachlichen Formen.

Vielleicht erklärt sich aus dem männlichen Neidgefühl die Erfindung des Kompositums Schreckschraube. Auch das eindeutig ein dominium femininum.

Höflichkeit

Übertriebene Höflichkeit ist die sublimierte Aggression eines Menschen, der Angst davor hat, als Heuchler entlarvt zu werden.

Dem Wort "Höflichkeit" haftet auch heute noch seine Herkunft aus dem intriganten höfischen Getue an, das durch Schleimerei und Schmeichelorgien geprägt war. Daß das alles keine Erfindung des frühneuzeitlichen höfischen Lebens ist, sondern in milderer Form bereits in der Antike zu finden, erkennt man, wenn man etwa den Blick auf römische Patronatsbeziehungen richtet.

Kinderpornographie

Wie bigott die Mediengesellschaft ist, kann man jetzt wieder an den Diskussionen um ein Plattencover von den Scorpions aus den siebziger Jahren erahnen, auf dem ein nacktes minderjähriges Mädchen hinter einer gesprungenen Glasscheibe zu sehen ist. Nicht besonders gelungen, das Cover, sicher, und bestimmt fragwürdig.

Nun, nach über 30 Jahren, haben eifrige Wächter es entdeckt und versuchen, daraus einen "Pornographieskandal" zu machen, wie es allenthalben nachgeplappert wird. Das ist nicht nur absurd, sondern führt in der Konsequenz dazu, daß einerseits demnächst Verrückte mit Leinentüchern in die Museen laufen, um alles abzudecken, was sie für pornographische Darstellungen halten, während andererseits die Verfolgung tatsächlicher Straftäter erschwert wird, weil mancher geneigt ist, die Problematik als hochgebauscht zu betrachten. Ist es nicht so, daß die Feuerwehr nicht mehr so gern kommt und länger nachfragt, wenn sie allzu oft zum Einsatz gerufen wurde, nur weil jemand an einer Straßenecke ein Blatt Papier angezündet hat?

Wer alles, was er in die Finger bekommen kann, in einen Begriff hineinstopft (in diesem Fall Pornographie), nimmt ihm seine Schärfe und relativiert ihn damit. Das ist das eigentlich Problematische an diesem Vorgang, denn nichts lenkt so sicher von tatsächlichen Pornographieskandalen ab wie künstlich generierte Scheinskandale.

Daß inzwischen so ziemlich jeder, der die Scorpions-Platte bisher ebensowenig kannte wie das Cover, die Abbildung gesehen hat, ist ein weiterer merk- und denkwürdiger Nebeneffekt: Etwas soll möglicherweise indiziert werden, aber vorher wird es allen breit unter die Nase gerieben.

Ich muß doch mal schauen, ob ich noch ein Strandfoto von mir aus Kinderzeiten finde – als Umschlagabbildung oder Frontispiz für meinen nächsten Gedichtband.

Welt online

Maulproleten und Zerebralprominenz

Eine auffällige Kulturverflachung unserer Zeit ist die Verschmelzung bisher von vielen als disparat betrachteter Bereiche: Während Maulproleten wie Bohlen auf der Buchmesse Pressekonferenzen abhalten, sorgen Vertreter der Zerebralprominenz wie Sloterdijk durch ihre Äußerungen in Interviews dafür, daß sich die Grenzen zwischen der sprachlichen Darstellung von Gedanken und belanglosem Großsprechgelaber immer mehr verwischen. Das Maulproletentum wird auf diese Weise zerebral geweihwässert.

Dienstag, 9. Dezember 2008

Zirkus Zwanzigari

Wenn ein Fußballhansel sich so wichtig nimmt, daß er glaubt, er besitze die Konnotationshoheit im Sprachstrafraum, nur weil er mal Richter war, und könne den anderen seine persönlichen Assoziationen als semantische Weisheit unterjubeln, dann macht er sich zum Clown in der Wortmanege. Es darf gelacht werden über das Demagögchen. Demagogen sind aus anderm Holz geschnitzt.

Geschlossene Gesellschaft

Wenn wir uns allzusehr mit unseren Meinungen identifizieren, laufen wir Gefahr, sie für Wissen zu halten. Dieses Scheinwissen lähmt uns und nimmt dem Prozeß der Meinungsbildung alle Dynamik. Wir prüfen nur noch, ob unsere Erlebnisse und Wahrnehmungen unser Wissen bestätigen, und nicht mehr, ob unser Wissen mit den neuen Erfahrungen übereinstimmt. Im ungünstigsten Fall wissen wir über das Bescheid, was geschieht, ohne unsere äußere Wahrnehmung ins Bewußtsein zu heben, ja wir können es nicht, weil uns unser Bewußtsein signalisiert, Neuaufnahmen seien nicht nötig, da alles, was an die Tür klopft, bereits bekannt und bewertet sei. Keineswegs wegen Überfüllung geschlossen, sondern geschlossene Gesellschaft.

Schein und Sein

Die einen scheinen mehr zu scheinen, als zu sein, die andern mehr zu sein, als zu scheinen. So scheint das Sein wie das Scheinen im Schein. Alles Sein, alles Schein.

Donnerstag, 4. Dezember 2008

Tirade 132 – Alter ego

Das lyrische Ich
wie verwurzelte Träume
im Herzen der Stich

wie das Summen der Bäume
im blinden Spiegel der Strich

Mittwoch, 3. Dezember 2008

Täuschungsmanöver

Menschen neigen dazu, die Ungenauigkeiten der andern als Fehler und die eigenen Fehler als Ungenauigkeiten zu bezeichnen. So hyperbeln sich die meisten euphemistisch durchs Leben. Und wenn ihnen ihre Bäume dabei zu Büschen werden, beschwören sie den hohen Wert ihrer Erdverbundenheit.

Montag, 1. Dezember 2008

Narrative Gedichtinterpretation

Narrative Interpretationsstrategien wie die meine, angewendet auf Alfred Wolfensteins Gedicht "Städter" aus dem Jahr 1914, sind zwangsläufig hochspekulativ und literaturwissenschaftlich in beträchtlichem Maße fragwürdig. Und dennoch sind sie vielleicht näher am Text und wahrhaftiger als so manche akademische Trottelei, die sich in Silbenzählerei und metrischer Scheinanalyse ergeht, vollgestopft mit tropischen Reziprokprojektionen, die nichts sichtbar machen als die scheinbare Gelehrsamkeit des Interpreten und dessen Verinnerlichung der gültigen literarhistorischen Epochenschablonen.

Tirade 131 – Skulpturen

Steine erlauschen
den Atem der Gezeiten
lautloses Klingen

die schwingende Semantik
der gefrorenen Schreie