Donnerstag, 27. November 2008

Mutmaßungen über Alfred und ein Gedicht

Vom Belle-Alliance-Platz fuhr Alfred mit der Groschenbahn, vorbei an der Kürassierkaserne, an der verwaisten Markthalle, wo Arbeiter den letzten Schmutz des Tages zusammenkehrten. Auf der anderen Seite thronte gravitätisch das Kammergericht, und er dachte kurz an sein staubtrockenes Jus-Studium. Dann aber durchfuhr ihn wieder der bohrende Liebesschmerz. Diesmal hatte ihn Konrad brüsk zurückgewiesen, so als wäre Alfreds zaghaft tastende Hand eine lepröse Klaue. Und dann hatte Konrad ihm einen Vortrag gehalten über wahre Freundschaft, die nur mit wahren Freunden gelebt werden könne und nicht mit Fehlgeleiteten wie Alfred, und Alfred war geflüchtet, als wären tausend Teufel hinter ihm her. Ja, weggelaufen war er, geflohen vor ... Ja, vor was? Sich der Einsicht zu verschließen, daß Männer seine Sinne mehr affizierten als alle noch so attraktive Weiblichkeit, ja ihn erotisch echauffierten, hatte er längst aufgegeben, und Konrad, das hatte Alfred gespürt, es gesehen, gerochen, mit allen Sinnen aufgesaugt, Konrad ging es ebenso wie ihm selbst. Aber Konrad hatte gelacht und gewütet, getobt und hämisch gegrinst und ... Konrad war noch nicht so weit, er wollte sich noch ein Weilchen selbst betrügen. Wie so viele.

Alfred sackte in sich zusammen und blickte auf die endlosen Fensterreihen, die an ihm vorbeizogen, dieses graue Gewürge, dieses blutleere Steinfeuerwerk, das alles Leben garottengleich langsam, ganz langsam strangulierte, erstickte und schlußendlich fossilierte. Nichts würde bleiben als Sedimente vergeblicher Träume.

Die Tram hielt und spuckte alle aus. Nur Alfred blieb sitzen, leidend und voller Zorn und und innerlich geschüttelt von einem gnomigen Mischwesen aus Selbsthaß und Larmoyanz. Im letzten Moment, die Straßenbahn hatte bereits angeruckt, kamen sie hereingeflogen und schwebten wie schwarze Engel auf die Sitze, die beiden, deren Blicke sich ineinanderbohrten wie Schrauben in Holzbretter. Sie verzehrten einander mit einer Glut, die Alfred frösteln machte. Der junge Mann, die junge Frau, sie sprachen nicht, sie nahmen nichts um sich herum wahr, sie kopulierten geradezu mit orgiastisch geröteten Augen. Und Alfred wurde klein und alt und grau wie das Straßenpflaster. Und alles war so dicht, so dicht an seiner Kehle und er so fern, so fern von allem, was lebte und glühte.

Als er nach Jahren, wie ihm schien, endlich sein Zimmer betrat, brach Übelkeit sich Bahn, und er erleichterte sich in den Nachttopf. Er weinte, schluchzte, sprach stakkatoartig mit sich selbst und erlebte das Echo seiner Verzweiflung wie den Widerhall von Rufen in einer Tropfsteinhöhle. Erst nach langen Kämpfen mit Decken und Laken schlief er erschöpft ein.

In der Nacht weckten ihn Geräusche. Ein Kind schrie, er hörte flüsternde Stimmen, die sich zu polterndem Geschrei aufbliesen und dann wieder beruhigten, bevor sie ebenso schnell verstummten wie zuvor das Kind. Alfred machte Licht, setzte sich an den Tisch und schrieb:

Städter

Dicht wie die Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte sehn.

Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, ihre nahen Blicke baden
Ineinander, ohne Scheu befragt.

Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Unser Flüstern, Denken .. wird Gegröhle ..

– Und wie still in dick verschloßner Höhle
Ganz unangerührt und ungeschaut
Steht ein jeder fern und fühlt: alleine.

Montag, 24. November 2008

Der gelehrte Lapsus

So wie Ironie nicht selten nur Ausdruck mangelnden Mutes ist, zu sagen, was man denkt, so ist manches kunstvolle Oxymoron oft nichts weiter als stilistische Veredelung krauser Gedanken: ein kognitiver Lapsus im prächtigen literarischen Gewand. Hölzernes Eisen wird häufig von Holzköpfen produziert.

Mittwoch, 24. September 2008

Montag, 22. September 2008

Kafkas New York

Beim Lesen der Handschriftfassung von Kafkas "Der Verschollene", gemeinhin bekannt als "Amerika", ganz erstaunlich die unterschiedlichen Schreibweisen von New York: New York, Newyork, New-York. Natürlich gibt es viele derartige Ungereimtheiten bei Kafka, die sicher nicht überbewertet werden sollten, aber in diesem Falle scheint es mir so, als ob Kafka der Stadt damit den Charakter des Unverbindlichen, Ungreifbaren, Unfertigen verleihen wollte. Aber wer weiß, vielleicht ist es auch einfach nur Schlamperei.

Samstag, 20. September 2008

Gott und der Teufel

Gott und der Teufel hätten sich vielleicht besser nicht beide in einen so engen Raum im Innern des Menschen verkriechen sollen. Wenn sie sich eine andere Wirkungsstätte gesucht hätten als den Menschen – am besten weit entfernt voneinander –, gäbe es weniger Zänkerei zwischen den beiden Kontrahenten, und auch wir könnten uns ungestört den Sonnenaufgängen widmen. Und den Untergängen.

Scheinheilig

Wenn etwas heiliger erscheint als der Schein der Heiligkeit, dann ist es scheinheilig. Der Schein heiligt die Scheinheiligkeit. Aber nur zum Schein.

Getragene Würde

Allem Würdevollen haftet etwas zutiefst Würdelos-Lächerliches an, und niemand vermag eine Krone würdevoller zu tragen als der Unwürdige.

Tabus

Gebrochene Tabus sind wie gebrochene Knochen: Meistens wachsen die Teile wieder zusammen, und es gibt jede Menge Mediziner, die versuchen, alles wieder so zu richten, wie es mal war. Und was krumm ist und was gerade, das bestimmt der jeweilige Geschmack.

Fanatiker

Weit entfernt davon, selbstgerecht zu sein, ist ein Fanatiker ein gerechtigkeitsliebender Menschenfreund, einer, der glaubt, andere wären noch dümmer als er selbst, und es sei wünschenswert und mit aller Macht durchzusetzen, daß die andern auf seinen edlen Stand gehoben werden. Dead or alive.

Hans Dampf

Ein Universaldilettant, der gerne ein Schmalspurgenie wäre, bei dem es aber nicht mal zum Fachidioten reicht.

Verstehen

Heißt nicht wirkliches Verstehen, eine Ahnung davon zu bekommen, daß wir von den meisten Dingen keine Ahnung haben? Nichtverstehen ist demnach nur völlige Abwesenheit von Ahnung. Es ist zwar frustrierend und eine Kränkung für unser Ego, aber wir sollten uns eingestehen, daß die wichtigsten Dinge für uns undurchschaubar sind.

Persephone

Über den "Sinn" von Sinn

Über Sinn oder Unsinn von etwas können wir nur dann etwas sagen, wenn wir ein System zugrunde legen, in dem beides definiert ist. Alle solche Systeme stehen jedoch wackelig in den Zeitläuften und sind aus konventionellem Material zusammengeschustert und in hohem Maße subjektiv und abhängig von der Perspektive des jeweiligen Gedankenschusters. Die Wörter "Sinn" und "Unsinn" sind wie ihr Inhalt eine Erfindung des Menschen und haben keine tiefere Bedeutung als ein Holzpflock, den man auf einer Wiese in die Erde treibt.

Wenn wir uns fragen, ob das Wort Sinn Sinn hat, ähneln wir einer Katze, die sich in den Schwanz beißt. Deshalb fragen wir nicht danach, sondern setzen es stillschweigend voraus. So auch die Katze: Wenn sie das Jagen nach ihrem Schwanz nicht sinnvoll fände, schliefe sie lieber.

Unbeständigkeit

Das einzig Beständige an der Unbeständigkeit ist deren Folge: der Mißerfolg.

Auf dem Wasser wandeln

Man sollte sich nicht allzusehr beeindrucken lassen von Leuten, die auf dem Wasser wandeln. Ihre Aktionen sehen spektakulär aus, aber hinter ihnen steckt nicht viel mehr als Wasserscheu und die Unfähigkeit zu schwimmen.

Der Bruder Leidenschaft

In einem Buch über die Farben von Klausbernd Vollmar las ich, geistige und physische Leidenschaften seien "zwar feindliche, aber doch eng verbundene Brüder". Brüder. Der Autor ist, wie man vermuten darf, kein passionierter Sprachliebhaber.

"Schwarze Milch der Frühe"

Die angeblich paradoxe "schwarze Milch der Frühe" in Celans "Todesfuge", über die so viel gestritten wurde in der Literaturwissenschaft, verliert sehr leicht einen Großteil ihres oxymorotischen Charakters, wenn man bedenkt, daß Hippokrates empfahl, bei schweren Krankheiten die Milch schwarzer Kühe zu trinken.

Todesfuge

Ontologische Ironie

Das Paradoxe am Leben ist, daß es im Menschen die Voraussetzung schafft, den Gedanken an eine Freiheit des Seins zu entwickeln, die dem Leben nicht innewohnt, ja, die es beständig durch ironische Kommentare des eigenen Körpers und die Lebensäußerungen der anderen ins Lächerliche zieht.

Die Tücken der Agonalität

Man sollte meinen, jede gelungene Selbstreflexion decke den verborgenen agonalen Charakter des eigenen kulturellen Denkens und Handelns auf und wäre das Einfallstor für intellektuelle Gelassenheit und eine bescheidenere Sicht. Da jedoch das Agonale archetypisch tief im Menschen verwurzelt ist, wird der Reflektierende alsbald versuchen, jeden andern in der Tiefe der Reflexion über das Phänomen der Agonalität zu übertreffen. Die eigenen Erleuchtungen sollen heller strahlen als die der andern, und wenn wir uns mit anderen Reflektierenden auf der dritten Stufe der Metaebenen befinden, halten wir doch heimlich Ausschau nach einer vierten, um die andern zu übertreffen: das Agens (sic!) jeder kulturellen und intellektuellen Entwicklung.

Vielleicht ist das auch der wahre Sinn von Goethes letzten Worten: "Mehr Licht!"

Schein-Werfer

Wenn wir einen Gegenstand genauer betrachten, um herauszufinden, ob er so ist, wie er scheint, erzeugen wir mit unseren Scheinwerfern gerade den Schein, der verhindert, den Gegenstand so zu sehen, wie er ist.