Sonntag, 10. Juni 2018

Offener Brief vom 24.10.2016

Sehr geehrter Herr Dr. Bartsch,

wie Sie wissen, ist dies nicht der erste Brief, den ich Ihnen in Sachen „Stadthotel“ schreibe, und da ich von Ihnen bisher keine schriftliche Antwort auf meine Schreiben bekommen habe, betrachte ich den heutigen Brief als einen offenen.

Sie selbst halten sich ja mit offenen Bekenntnissen („Klares Votum für das Hotel“, „ohne Wenn und Aber für Neubau“ oder auch „Stadthotel Brilon, davon profitieren alle!“) nicht etwa zurück, sondern rühren in einer Mischung aus Baumarktreklame und Realsatire (brilon-totallokal) fleißig und „unmissverständlich“ die Werbetrommel für den Investor/die Investorin.

Zur Geschichte: Als ich im Jahre 2011 nach vierzig Jahren Großstadtleben wohlüberlegt, wie mir schien, die grüne Stadt Berlin verließ, um mein Elternhaus in Brilon zu übernehmen, statt es, wie viele erwartet hatten, zu verkaufen, ahnte ich noch nicht, dass mein Garten hinter dem Haus zukünftig nicht mehr, wie bisher, an andere Gärten angrenzen würde, sondern an Gewerbegebiet. So die Planung. Wie hätte ich auch ahnen können, dass man in Brilon aus den Bausünden der sechziger/siebziger Jahre nichts gelernt hat. Nun bin ich also hier, habe das Haus mit (für mich) viel Geld auf Vordermann gebracht und hatte die Absicht, in meinem großzügigen Arbeitszimmer mit Gartenblick ruhig meine beruflichen Aufgaben zu erfüllen und nach Feierabend im eigenen Grün zu entspannen und dem Vogelgezwitscher zuzuhören und den Bäumen beim Rauschen.

Und nun erfahre ich, dass laut Planung demnächst nicht mehr Vogelgezwitscher zu hören sein wird, sondern Staubsaugergedröhn und spätnächtliches bzw. frühmorgendliches Lieferantenscheppern, Brummen der diversen Lüftungsanlagen und möglicherweise noch das Geklappere einer Restaurantküche. Als würde es nicht reichen, dass vor dem Haus durch die enge Obere Mauer ein Großteil des Briloner Verkehrs durchgeleitet wird, so dass man kaum ein Fenster zum Lüften öffnen kann – von erholsamem Schlaf ganz zu schweigen. Normales Leben, wo man am Gartenzaun mit den Nachbarn plaudert, scheint mir in der Briloner Innenstadt selten geworden zu sein, so selten wie die Stadtgärten, denn sobald irgendwo ein Haus abgerissen wird, dem früher meistens ein Garten angegliedert war, entsteht nicht nur auf der Fläche des Hauses etwas Neues, nämlich ein Parkplatz, sondern der Garten geht mit drauf.

So auch hier: Das Erste, was der Investor mit den erworbenen Grundstücken getan hat, noch bevor der Abriss der Häuser begann: Er ließ alle vorhandenen Bäume und Sträucher beseitigen. Anschließend wurden die Häuser ohne Ankündigung von Seiten des Abbruchunternehmens und auch von Seiten der Stadt (es gab doch sicher eine Abbruchgenehmigung) trotz starker Staubentwicklung ohne einen Tropfen Wasser abgerissen. Dabei wurde mein Haus beschädigt und der Schaden trotz eindeutiger Zusage bis heute nicht beseitigt.

Das erwähne ich nur, weil auch dadurch die Rücksichtslosigkeit des Investors deutlich wird, der im Bauausschuss und auch anläßlich der Bürgerversammlung als eine Art Wohltäter der Stadt Brilon gefeiert wird. Im Bauausschuss fiel für dessen Verhalten gar das Wort „sensationell“. Dass die Anwohner das Ganze möglicherweise weniger euphorisch bewerten, interessierte im Bauausschuss nicht weiter.

Nun soll allen Ernstes dort, wo früher kleine Häuser mit Gärten gestanden haben, ohne Rücksicht auf Verluste eine völlig überdimensionierte Klamotte von Hotel hingeklotzt werden, die sich nicht nur nicht in die Umgebung einfügt, sondern der Gegend als Wohngegend den Rest gibt. Und wozu das Ganze? Weil in Brilon angeblich Hotelbetten fehlen, vor allem, wie im Bauausschuss und in der Bürgerversammlung zu hören war, „wenn mal ein ganzer Bus Gäste untergebracht werden soll“. Das Hauptargument für ein Hotel dieser Größe! Interessanterweise wurde beinahe im gleichen Atemzug auf den Einwand eines Anwohners bezüglich der Verkehrssituation gesagt: „Nach Aussage des Investors kommt ja kein Bus.“

So beginnen Schildbürgerstreiche: mit solchen die Vernunft beleidigenden Paralogismen. Inzwischen ist, nachdem die Planung verschlimmbessert wurde, die Baugenehmigung erteilt, und Sie tun in der Öffentlichkeit so, als wäre dabei alles mit rechten Dingen zugegangen. Wer sich die Pläne genauer anschaut, dem schießen Assoziationen eines Schulzentrums oder eines Krankenhauses ins Bewusstsein, oder man denkt, wenn man sich die Fenster mit Gitterstäben versehen vorstellt … vielleicht ein moderner Gefängnisbau?

Nach Ihrer Aussage jedoch wird sich das „Gebäude derart einfügen in die Umgebungsbebauung, dass es für alle verträglich ist“. Also so ähnlich wie etwa die große Briloner Touristenattraktion, das Sparkassengebäude am Marktplatz. Sie sagen leerformelhaft: „Bedenken sind natürlich ernst zu nehmen“, ohne ein weiteres Wort über diese Bedenken zu verlieren. Stattdessen lange Rede des Herrn Dülme über angebliche Vorteile: … „viele Gäste, die in Brilon ihr Geld ausgeben … Arbeitsplätze … heimische Wirtschaft profitiert … Gastronomie, Einzelhandel, Dienstleister“.

Niedergang der kleineren Hotels? Ach nein, das sagen Sie nicht: „Davon profitieren alle!“ Ach ja? Und die Anwohner, die sich überaus zahlreich in einer Unterschriftenliste gegen das Projekt in dieser überdimensionierten Form ausgesprochen hatten? Die übliche Definition von „alle“ scheint in Brilon etwas vom semantisch Korrekten abzuweichen und die nicht direkt wirtschaftlich Interessierten auszuschließen.

Als die „alten Buden“, wie der Investor die Wohnhäuser nennt, abgerissen wurden, waren die Mieter, die dort teilweise jahrzehntelang gewohnt hatten, natürlich nicht mehr drin, sondern vorher vertrieben worden. Das war der erste Teil von „alle“. Halten wir fest: Preiswerter Wohnraum wurde vernichtet. Die vor die Tür gesetzten Mieter waren die Ersten, die nicht profitiert haben.

Nun sagen Sie, Herr Dr. Bartsch, bei Ihrem Votum für das Hotel drohend: „Wenn dort kein Hotel hinkommt, dann etwas anderes. Und das werden sicher keine Einfamilienhäuser sein.“ Das wäre auch zu absonderlich, geradezu komisch: Wohnhäuser in einem Wohngebiet. Wie unpassend.

Vielleicht Flüchtlingsunterkünfte? Sie, Herr Bürgermeister, nehmen die „Bedenken der Anwohner“ so „ernst“, dass Sie polemisch formulieren: „In der Innenstadt zu wohnen und ohne Verkehr auszukommen, widerspricht sich in der heutigen Zeit.“ Mal abgesehen davon, ob sich das tatsächlich widerspricht und die Innenstadt ohne Autoverkehr nicht vielmehr die Realität der morgigen Zeit sein wird, es geht hier nicht darum, „ohne Verkehr“ auszukommen, sondern durch vernünftige Planung zu verhindern, dass sich die bereits jetzt unerträgliche Verkehrssituation mit täglich Tausenden von Fahrzeugen besonders in der Oberen Mauer noch weiter verschärft.

Ach ja, dass die Stadtverwaltung das Ganze auch als Prestigeobjekt „im Hinblick auf die Internationalen Hansetage“ betrachtet, ist klar. Klar ist aber auch, was aus solchen Objekten häufig wird, wenn die besonderen Tage vorbei sind, wie man beispielhaft bei diversen Olympischen Spielen sehen kann. Vieles kommt herunter, weil für den Alltagsgebrauch zu groß geplant.

(Ausnahmsweise in neuer Rechtschreibung.)

Dienstag, 5. Juni 2018

Gebunden

So viele Welten
und trotzdem keine Bindung
so viele Menschen

und dennoch allein mit mir
und immer allein bei dir.

Falsch abgebogen

Eine der bedenklichsten Fehlentwicklungen der modernen Zivilisation scheint mir zu sein, daß die vernünftigeren Menschen meist viel zuwenig Zeit haben und die mit wenig oder ohne Denkbefähigung viel zuviel. 

So denn, warmer Mond

Die Tage wildern grau in blauen Himmeln
Und tragen Lebensglut in Fässern fort
Du siehst das frische Brot verschimmeln
Und jeden Allertagemord.

Es ist dein Leben, das wie Eisen rostet
Du siehst den Stein, der die Genicke bricht
Du zahlst, auch wenn der Wind nichts kostet
Der dich hinfortweht aus dem Licht.

Du siehst die Funken, die im Dunkel splittern
Es ist dein Schatten, der die Blüten bricht
Du bist bereit, nur leichtes Zittern
Und langsam schwindet dir die Sicht.

Narren und Helden

Die Narren lauern auf den Furz des Helden.

Scherbenhaufen

Wer sich und andern nicht eingesteht, daß er Hilfe braucht, sucht sie dort, wo er sie nicht findet, nicht finden kann, was ihm paradoxerweise beweist, daß er sie nicht braucht. Das geht eine ganze Weile gut, aber auf Dauer vermehrt man damit nur die Anzahl der Scherbenhaufen. Und am Ende steht man Auge in Auge mit dem Nichts.

Montag, 4. Juni 2018

Transsubstantiation

Noch im scheinbar aufgeklärten 21. Jahrhundert gibt es Menschen, die ernsthaft darüber streiten, ob Gottgläubige unterschiedlicher christlicher Konfessionen gemeinsam an einem Akt der Anthropophagie teilnehmen dürfen, weil die einen diesen Vorgang als symbolischen ansehen, während die anderen tatsächlich Fleischgeschmack im Mund verspüren.

Ich frage mich bei dem allen: Was halten katholische Vegetarier von der Idee der Transsubstantiation?

Vielleicht sollte man Köttbullar reichen, um das Geschmackserlebnis für alle gleichermaßen realistisch zu gestalten.

Christliche Vegetarier (und Veganer) müßten dann allerdings leider zu Hause bleiben – nicht nur die protestantischen.

Sprachchirurgie

Sprachchirurgie gelingt nur ohne Narkose.

Einer schrieb 1

Einer (Klausens) schrieb:

»KURZE ERKENNTNIS
ZUR FORTFAHRENTWICKLUNG
DER MENSCHHEIT

Erstens

Im Mittelalter
Sollen gerne mal
Scherben oder Steine
Ins Brot eingebacken
Gewesen sein

WER BIETET EINHALT?

Das kann einem
Heute gut und gern
Immer noch passieren
Wo Geld alles ist
Gesundheit wenig

Zweitens

Im Mittelalter
Sollen gerne mal
Scherben oder Steine
Ins Brot eingebacken
Gewesen sein

WER BIETET EINHALT?

Das kann einem
Heute gut und gern
Immer noch passieren
Wo das Abgas- und -werteverhalten
Von Autos massenhaft gezielt industriell manipuliert wird«


Mittelkurze Bemerkung:

Eine Erkenntnis ist
weder kurz noch lang
zu einer Erkenntnis kommt man
oder man kommt nicht dazu
man hat keine
Erkenntnis zu etwas
man kommt zu einer Erkenntnis
über etwas

eine Fortentwicklung
ist keine Fortfahrentwicklung
und man bietet nicht Einhalt
Einhalt gebietet man
oder auch nicht

und vor allem:
Autos verhalten sich nicht
haben kein Verhalten
sondern nur
Funktionen
verhalten können sich
immer nur Lebewesen

so wie sich das Brot
im Mittelalter
oder auch später
nicht hart verhielt
wenn ein Steinchen
eingebacken war

und auch der Zahn im Mund
verhielt sich nicht zart
als er brach

aber der Besitzer des Zahns
verhielt sich angemessen

als er schrie

Gut finden?

Allen Ernstes wird gefragt: »Dürfen wir eine Fußball-WM in Russland gut finden?«

FAZ zu Anne Will 

Ich frage mich vielmehr, ob ich solche absurden Fragen gut finden sollte und die Tatsache, daß jemand sich anmaßt, mir Empfehlungen zu geben, was ich gut finden sollte und was nicht. Was ich gut finde und was nicht, das weiß ich nämlich selbst am besten.

So wußte ich auch ganz ohne diese Frage und ganz ohne Empfehlung, daß ich im Gegensatz zu den politischen Verantwortlichen und zum größten Teil der Presse damals die Fußball-WM in Argentinien nicht gut fand, weil in dem Land politisch nicht genehme Menschen verfolgt und gefoltert oder gern auch mal aus Flugzeugen über dem Meer abgeworfen wurden. Es herrschte dort in jenen Jahren ein Verbrecherregime übelster Sorte, und wie wir wissen, fanden die USA rechte Diktaturen in Lateinamerika ganz toll.

WM 1978

Aber ich soll mich fragen, ob ich eine Fußball-WM in Russland gut finde.

Sonntag, 3. Juni 2018

Fatalität

Das Sehr-Gute ist so selten wie ein schwarzer Diamant. Und wird leicht übersehen. Gutes ist immer zuwenig, denn das Bessere ist besser als das Gute. Aber das Bessere, wenn man es tatsächlich findet, nutzt sich meistens schnell wieder zu gut ab. Dann schaut der Mensch erneut nach Besserem und findet meist nur Mangelhaftes. Irgendwann meint er dann, das Mangelhafte sei ausreichend, findet es befriedigend und richtet sich im Ungenügenden ein.

Meinung

Ziemlich gefährliche Sache, eine Meinung ohne Aufsicht einer urteilsfähigen Vernunft in einem Kopf entstehen zu lassen. Dabei kommt selten etwas Besseres heraus als bei dem Versuch, einen Hefekuchen in einem Lagerfeuer zu backen.

Nur wenn einer Meinung ein aktiver Prozeß der Meinungsbildung vorausgegangen ist, der gern auch mal länger als fünf Minuten dauern darf, und man der Meinung eine halbwegs solide Grundierung ansehen kann, ist diese Meinung mehr wert als eine Blechmünze.

Nachgeplappertes ist keine Meinung. Der Nachplapperer kann also froh und sollte dankbar sein, daß er wie der Hefekuchenbäcker mit seinem Geplappere dennoch in den meisten Fällen von der Meinungsfreiheit profitiert, selbst wenn er – wie besonders, aber nicht nur, manche Migranten aus den deutschen Ostgebieten – nicht müde wird zu betonen, es gäbe in unserer »lügenpresseverseuchten Linksgründiktatur« keine Meinungsfreiheit.

Bewußtwerdung

Manchmal wird uns erst dann richtig bewußt, was wir wissen, wenn uns jemand anderes mit anderen Worten als den eigenen darauf hinweist. Dadurch, daß er uns versteht, verstehen wir uns selber besser.

Samstag, 2. Juni 2018

Risiko

Ein kalkuliertes Risiko ist kein Risiko; es erscheint nur denen als solches, die nicht kalkulieren können oder ihren eigenen kalkulatorischen Fähigkeiten nicht trauen. Zum Mißerfolg führt der Fehler in der Kalkulation, nicht aber das kalkulierte Tun.

Platos Ringe

An meinem Hals wie Eisenringe
hängt das Gewicht, der Fluch
des warmen Blutes, denkgedacht,
Lebenserlebens, aufgewacht,
wie eine Marmorvogelschwinge
auf einem offnen Weisheitsbuch.

Zu tragen hilft die kleine Liebe
die große ist nur Wahn und Schein
symbolisch nur und nicht zu spüren
nur da, zum Unglück zu verführen
nur Maskenspiel verkappter Diebe
ein Hirngespinst im falschen Sein.

Warten II

Gedanken wälzen
Gedanken
und Liebe tröpfelt
ins Leere.
Auf der Zunge
verklebte Hilferufe.

Nichts fließt
nur das Blut tuckert
träge dahin.

Freitag, 1. Juni 2018

Tagesschau

Milchglasiges
Wundengebrüll
zerfließt an
schreckenverkrusteten
Seelen.
Sekundenstarker
Trauerbruch
wieselt vorbei.
Unterm Mantel
erstarrter Tränen
trommeln Herzen.
Vergessen.

Donnerstag, 31. Mai 2018

Zufälle

Zufälle sind Scherze der Notwendigkeit oder auch ironischer Kommentar des Universums zu unserer Gewohnheit, uns selbst allzu wichtig zu nehmen.

Dienstag, 29. Mai 2018

Denken denken

Jede Formvorgabe und jede Erwartungshandlung beim Denken ist von Übel, weil der Denkprozeß durch solche Prämissen unnötig behindert und verwässert, wenn nicht gar verhindert wird.